Siemens AG
Impuls des Fortschritts.
Dr. Gunter Beitinger
Head of Factory Digitalization & Head of Product Carbon Footprint bei der Siemens AG
In Amberg hat aib als Generalplaner das beeindruckende neue Visitor Center für die Siemens AG realisiert. Dieser dreigeschossige Komplex mit Open Work Spaces und Werksanbindung verknüpft auf 5.400 Quadratmetern Ausstellungs-, Konferenz- und Büroflächen sowie ein Digitallabor. Bis zu 10.000 Gäste aus aller Welt können hier jährlich die Spitzenleistungen von Siemens im Bereich Digitalisierung und Automatisierung erleben.
Herr Dr. Beitinger, wie entstand die Idee für das Visitor Center „The Impulse“ am Siemens Standort Amberg?
Als ich die Leitung des Elektronikwerkes Amberg übernahm, gab es bereits ein sehr großes Interesse unserer Kunden am Thema Industrie 4.0. Insbesondere nach dem Besuch der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in unserem Werk ist die Nachfrage nach Informationen zu diesem Thema stark gestiegen. Wir hatten zwar schon Besucherräume, aber diese waren zu klein und von der Logistik her ungeeignet. Daraus entstand die Idee, repräsentativere Räume für unsere Besucher aus der Industrie, der Politik und anderen Bereichen zu schaffen. Gleichzeitig wollten wir unser Leistungsportfolio besser präsentieren. Aus der anfänglichen Idee eines Besucherpavillons entwickelte sich dann ein neuer Gedanke: Wenn wir wirklich die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Fertigung und Entwicklung, zwischen Forschung und Industrie, zwischen Kunden und Lieferanten zeigen möchten, benötigen wir ein neues Umfeld für die Ermöglichung eines kreativen Miteinanders.
Welche Anforderungen wurden konkret für dieses neue Umfeld formuliert?
Es sollten Rahmenbedingungen für die gemeinsame Umsetzung neuer Ideen und Lösungen geschaffen werden. Damit war klar, dass wir ein Industrielabor benötigen und zugleich Räumlichkeiten, die kreative Entfaltung anregen und eine offene Arbeitskultur abbilden. Wir haben uns mit der Ostbayerischen Technischen Hochschule Amberg-Weiden ausgetauscht und gemeinsam das Projekt eines Open Space Lab als innovativem Lernort entwickelt. Ohne administrative Hürden sollten hier Universität und Industrie zusammen forschen können. Als eine weitere Grundlage waren Büroräume ohne zugewiesene Arbeitsplätze für agiles Arbeiten und gemeinsamen Austausch vorgesehen. Aus diesen Überlegungen heraus entstand das Konzept eines Gebäudes, das sowohl außen als auch innen die Themen Digitalisierung, Kreativität und zukunftsweisende Arbeitswelt abbildet – ein Arbeitsumfeld, in dem sich jeder wohlfühlen soll. Die Herausforderung, alle Bereiche näher zusammenzubringen und neue Arbeitsweisen zu leben, hat schließlich zur Planung von „The Impulse“ geführt.
Ist dieses Konzept sofort von allen verstanden worden?
Unsere Ingenieure und Entwickler, die vorher über verschiedene Standorte in Amberg verteilt waren, sollten im neuen Gebäude zusammengeführt werden. Das ist zunächst auf einige Widerstände gestoßen, da die Offenheit der neuen Arbeitswelt ungewohnt war. Auch für das Thema Desk Sharing war anfangs ein Kulturwandel erforderlich. Nach der Phase der Corona-Pandemie wird das aber nicht mehr in Frage gestellt.
Was bedeutet „The Impulse“ heute für den Konzern und welches Selbstverständnis hat sich daraus entwickelt?
Wir sind von der Resonanz und Akzeptanz beeindruckt. Das Gebäude wird im Konzern mittlerweile als Referenzprojekt betrachtet und es kam schon die Frage auf, ob wir nun an anderen Standorten etwas ähnliches planen. Auch von den Mitarbeitenden, die hier arbeiten oder an Workshops teilnehmen, gibt es eine sehr positive Rückmeldung. Das Projekt zeigt auf außergewöhnliche Weise, wie mit Design- und Wohlfühlelementen eine neue Arbeitswelt eingeführt werden kann. Es ist ja nicht so selbstverständlich, in Architektur und Design zu investieren. Während der Planungsphase wurden die Kosten mitunter hinterfragt. Das stellt heute aber niemand mehr in Frage. Es ist ein Vorzeigeprojekt für eine neue Arbeitskultur und die Art, wie gemeinsam gearbeitet und geforscht wird.
Hilft ein Projekt wie „The Impulse“ auch bei der Rekrutierung von High Potentials im zunehmenden Fachkräftemangel?
Bei der Planung des Visitor Centers wurde dieser Aspekt mitgedacht. Im ländlich geprägten Raum ist es für uns nicht einfach, die für uns erforderlichen Fachkräfte zu bekommen. High Potentials fokussieren sich eher auf große Städte, denn kreative Menschen möchten sich untereinander austauschen. Ländliche Gebiete haben hier oftmals das Nachsehen. Ein Anziehungspunkt wie „The Impulse“ erhöht natürlich die Attraktivität des Standortes. Es ist eine Art Leuchtturm, der über die Region hinausstrahlt. Mit der außergewöhnlichen Arbeitsumgebung konnten wir schon neue Mitarbeitende anwerben. Das hat sogar schon zu einem überdurchschnittlichen Anteil an Bewerberinnen geführt. Gerade der Bereich der Fertigung ist ja eher männlich geprägt und Diversität noch kaum ein Thema. Wenn sich neue Mitarbeiterinnen von der Arbeitsatmosphäre im Neubau angesprochen fühlen, freut uns das daher umso mehr.
Inwieweit ist das Projekt auch ein Experimentierfeld für innovative Technologien?
Es gibt im Visitor Center ein Open Space Lab mit der Idee, mehr Innovation und Kreativität anzuregen. Das Ausprobieren von neuen Produkten und Prozessen, das Einbringen von neuen Sensoren oder KI in die Produktionsanlagen, das Testen neuer Roboter oder von Schwarmintelligenz in autonomen Fahrzeugen – das fand vorher vor allem innerhalb der Produktion statt. Das voneinander zu lösen und ein Umfeld zu schaffen, das vielfältige Möglichkeiten für Forschung und Entwicklung bietet, ist ein großer Fortschritt. Außerhalb von Schicht- und Taktzeiten wird so experimentelles Arbeiten unter direkter Einbeziehung der universitären Forschung ermöglicht. Das Labor ist offen zugänglich, so dass man sehr schnell, agil und flexibel zusammenfinden kann. Es gibt Geräte wie additive Drucker und für informellen Austausch stehen Café- und Loungeflächen zur Verfügung. Das Arbeiten ist damit zeit- und ortsunabhängig möglich, was gerade den Studierenden entgegenkommt.
Welche Rolle spielt das Visitor Center heute im Arbeitsalltag vor Ort?
Die Fertigung hat sich in den letzten Jahren sehr gewandelt. Diesen Wandel möchten wir im Open Space Lab mitgestalten. Das überkommene Bild der Fertigung ist ja eher laut und dreckig mit einem starren Zeit- und Schichtplan sowie vorgegebenen Stückzahlen. Heute müssen wir immer noch produktiv sein, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Es kommen aber wesentlich mehr Innovationen aus der Fertigung. Der Grund dafür ist eine Demokratisierung der Daten. Generell lag die Datenhoheit früher beim Management und wurde nicht selten vor allem zur Kontrolle der Mitarbeitenden eingesetzt. Mittlerweile gibt es eine Datentransparenz bis in die Produktionsebene hinein. Der Zugang zu den Informationen für die Mitarbeitenden wird von uns aktiv unterstützt, um sie zu Optimierungsvorschlägen zu motivieren. Wenn sie dann etwas ausprobieren möchten, können sie das im Open Space Lab gemeinsam mit Experten umsetzen. Oftmals geht es dabei um vergleichsweise kleine Applikationen, die aber einen großen Impact haben. Es gibt hier tolle Mitarbeitende, die sich nun mit Applikationsprogrammierung beschäftigen. Diese Innovationen haben oft Industrierelevanz und können als Produkt vermarktet werden, weil sie einen praktischen Nutzen haben.
Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?
Ein gutes Beispiel für Innovationen aus dem Werk ist das Projekt SiGreen, das mittlerweile als Start-up innerhalb von Siemens tätig ist. Es handelt sich um eine Lösung für die sichere, effiziente Abfrage und Berechnung des realen CO2-Fußabdrucks von Produkten entlang der gesamten Lieferkette. Die Emissionsdaten der Lieferanten werden zusammengefasst und mit den eigenen Daten kombiniert. Damit helfen wir den beteiligten Unternehmen, gezielte Maßnahmen zur Reduzierung von CO2-Emissionen zu ergreifen. Die Bestätigung erfolgt über ein Zertifikat. Unser Werk in Amberg ist bereits in der Lage, CO2-Informationen auf Produktebene für die gesamte Lieferkette zu generieren. Das Projekt ist ursprünglich aus dem Wunsch entstanden, klimaneutrale Produkte herzustellen. Inzwischen gibt es den Verein Estainium, der sich mit der Dekarbonisierung von Lieferketten beschäftigt und mittlerweile 23 internationale Mitglieder hat. Es geht hier auch um industrieübergreifende Herausforderungen wie Methoden- und Datensicherheit.
Welche Relevanz haben gesellschaftliche Megatrends wie der demografische Wandel oder die zunehmende Individualisierung für die Arbeitswelt bei Siemens?
Wir müssen die Arbeitsplatzgestaltung neu denken. Es gibt einen demografischen Wandel und eine größere Diversität. Arbeitsplätze werden grundsätzlich technologischer. Komplexere Aufgaben müssen heute aber auch von älteren Mitarbeitenden bearbeitet werden können, ohne dass sie sich psychischem Stress ausgesetzt fühlen. Weitere Themen, die uns bei der Gestaltung der Arbeitswelt aktuell beschäftigen, sind zum Beispiel Sicherheit und Robotik: Wie kann die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine noch effizienter und sicherer werden? Wir denken auch über Informationsvermittlung nach, um Mitarbeitende besser zu vernetzen oder darüber, wie wir Gesundheit auch über die Arbeitszeit hinaus fördern können.
Welche Bedeutung wird Ihrer Einschätzung nach Künstliche Intelligenz für die Industrie der Zukunft haben?
Als Industrienation mit einem zunehmenden Fachkräftemangel werden wir nicht darum herumkommen, autonome Prozesse weiterzuentwickeln. In Amberg sind in verschiedenen Bereichen bereits KI-Systeme im Einsatz. In der Qualitätssicherung erhalten Mitarbeitende auf der Grundlage von smarten Algorithmen Vorschläge, die sie mit ihrem Know-how bewerten und dann an- oder ablehnen können. Ein nächster Schritt wird bei der Instandhaltung und bei Frühwarnsystemen praktiziert, wo das System schon eigenständig entscheiden darf, aber noch überwacht wird. Irgendwann wird es dann möglich sein, dass Systeme völlig autonom Entscheidungen treffen. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht.
Wie sehen Sie beim Thema Künstliche Intelligenz die Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland im internationalen Vergleich?
Wir diskutieren solche Entwicklungen oftmals auf einer ethischen Grundlage. Mit diesen Ethikfragen tun wir uns manchmal sehr schwer und werden daher mitunter bei den Innovationen von anderen Ländern überholt. Ethische Fragen sind absolut wichtig, aber deren Beantwortung sollte mit der Innovationsgeschwindigkeit Schritt halten. Es gibt zum Beispiel heute schon Image-Recognition-Verfahren, die wesentlich zuverlässiger Krebszellen erkennen als das Auge des Arztes. Der Mediziner muss aber die Analyse vornehmen, weil wir als Menschen dessen Irrtum eher akzeptieren, als den Irrtum der Maschine – auch wenn diese eine geringere Fehlerquote hat. Solche Diskussion gibt es auch beim autonomen Fahren, wenn es um die Gefährdung von Menschen geht. Wir werden diese Fragen rund um autonome Systeme in Zukunft schneller lösen müssen. Unser Vorteil in Europa ist aber das Knowhow, wenn es um Herstellungsprozesse und die Produktion als solche geht. Außerdem besitzen wir Schlüsseltechnologien im Bereich der Nachhaltigkeit. Deutschland ist Weltmarktführer bei nachhaltigen Technologien wie Wasseraufbereitung, Energieeinsparung oder Luftreinigung. Das sehe ich als große Chance für die Zukunft.
Wie würden Sie vor diesem Hintergrund die gesellschaftliche Rolle und den gesellschaftlichen Beitrag von Siemens bewerten?
Auch wenn es nicht immer so dargestellt wird, ist Siemens ein sehr nachhaltigkeitsorientiertes Unternehmen. Wir haben uns zu den Klimazielen bekannt und schon sehr früh einen Sustainability-Index eingeführt. Bis 2030 möchten wir als Unternehmen klimaneutral sein, bis 2050 auch in Bezug auf die Lieferketten. Wir erfüllen beim Reporting alle Standards. Das ist in den letzten Jahren mit der Einführung des DEGREE-Rahmenwerks noch verstärkt worden. Das Programm basiert auf sechs Handlungsfeldern mit klaren Prioritäten für unseren Nachhaltigkeitsansatz wie zum Beispiel Dekarbonisierung oder Aus- und Weiterbildung. Alle Neubauten werden im Übrigen nach dem Umweltstandard LEED zertifiziert und alle neuen Werke grundsätzlich CO2-neutral geplant. Die Sensibilisierung für Nachhaltigkeit betrifft auch Maßnahmen wie Schulungen für Mitarbeiter, die Verarbeitung regionaler Lebensmittel in den Betriebsrestaurants, die Einrichtung von E-Ladestationen für Fahrzeuge oder die Anpassung der Schichtpläne an den ÖPNV. Es gibt ein enges Monitoring unseres Energieverbrauchs, wobei einzelne Anlagen wenn nötig ersetzt werden. Das reicht bis in die Lieferketten hinein, indem wir bewusst Lieferanten auswählen, die diese Ziele mittragen.
Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie für Siemens in der Zukunft?
Für meinen Verantwortungsbereich, die Digitalisierung der Werke, ist die Vernetzung eine der größten Herausforderungen. Die globalen Veränderungen und Spannungen müssen wir mit einem stärkeren internen Netzwerk und einem robusten Werkverbund ausgleichen. Es geht dabei um Flexibilität, Kapazitätsverlagerung, Lieferketten. Die gesamte Infrastruktur mit Lieferketten muss intelligent und robust aufgestellt werden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird für uns außerdem eine autonome oder teilautonome Produktion immer wichtiger. Vor allem in Europa aufgrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels. Wir müssen in Zukunft nachhaltig sein und den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen uns noch mehr fragen, was die Technologie für den einzelnen Mitarbeitenden in seiner aktuellen Aufgabe leisten kann. Heute werden Arbeitsplätze und Prozesse vor allem auf der Grundlage von Durchschnittswerten optimiert. Ein menschzentriertes Arbeitsumfeld nimmt aber noch mehr die physischen und psychischen Bedürfnisse des Einzelnen oder der Einzelnen in den Blick. Die Künstliche Intelligenz muss menschzentriert bleiben.